Michael Hübl
Auszug aus der Eröffnungsrede der Ausstellung „Eva-Maria Reiner und Leonie Weber“, Galerie Gudrun Funker

[…] Leonie Weber wechselt absichtlich zwischen den Medien, malt, dreht Videos, installiert Objekte, baut Modelle, spielt mit der Sprache – und das alles in seismographischer Reflexion aktueller gesellschaftlicher  Lebensbedingungen. Wie bei Reiner überlagern sich auch bei Weber allgemeine Gegebenheiten und die Individualität  des Subjekts. Was bei Reiner die Konfektionsgrößen sind bei Weber die Slogans und Messages im urbanen Umraum von New York, der Leonie Webers Alltag ist. Es sind Botschaften wie „space available“ oder „magical thinking“, und sie haben zumindest eines gemein mit den Textilien in den Kaufhäusern: Sie wenden sich an eine anonyme Kundschaft. Sie sind für niemand Bestimmten gemacht, aber sie wollen berücksichtigt, sie wollen konsumiert werden. „Auch wenn sie einen nichts angehen, bezieht man sie irgendwie auf sich“, sagt die Künstlerin über die Leuchtreklamen, Werbeschilder oder Maklerplakate, denen sie wie alle Passanten auf ihren Wegen durch die Stadt ausgesetzt ist.
Platon hätte sich über diese Bemerkung wahrscheinlich gefreut. In seinem Werk „Phaidros“ übt der Philosoph mittels eines Dialogs seines Mentors Sokrates Kritik am Medium Schrift. Geschriebene Worte ließen ihren Urheber nicht erkennen, sie stünden durch die Schrift gleichsam unverrückbar im Raum: Direkte Nachfragen, Einsprüche oder Widerreden seien nicht möglich, weil der Autor nicht anwesend ist. Nun lässt sich einwenden, Platons Skepsis in Sachen Schrift mag im alten Athen ihre Berechtigung gehabt haben, weil das Medium allein schon durch den Aufwand, den es erforderte, Erhabenheit und Autorität signalisierte: Was in Stein gemeißelt wird, birgt ja sogar in der Moderne noch einen gewissen Ewigkeitsanspruch. Heutzutage jedoch (so wäre Platon entgegenzuhalten)  – heutzutage sind schriftliche Aussagen dank Twitter, E-Mail oder SMS schnellstens zu relativieren, fast so, wie wenn sich, um es in der Terminologie der Linguisten zu sagen, Sender und Empfänger vis-à-vis säßen. Nur: Wie ist das mit den herausfordernden, aufreizenden oder präpotenten Schriftzügen in Sportarenen und vor Supermärkten, auf Fassaden oder Fahrzeugen? Suggerieren sie nicht mehr, als sie halten können? „Space available“ – wie viel Raum soll da verfügbar sein und wie sieht er aus? Ein verlottertes Loch, in dem die Kakerlaken Party feiern? Oder: Ein prachtvolles Palastgemach, groß genug, um sich in stundenlangem Lustwandeln zu ergehen? Und was verbirgt sich hinter dem Begriff „magical thinking“? Ein Versprechen? Eine Lüge? Die Aussicht auf eine magische Steigerung der Denkfähigkeit, neben der Albert Einstein einem mittelmäßig begabten Grundschüler gleichkäme? Oder verheißt „magical thinking“ die per Gedankenkraft erzeugte Himmelfahrt zu wahnsinnig magischen Gestalten?
Potenziell sind derlei Assoziationen in den Begriffen bereits angelegt. Die Chance freigesetzt zu werden, erhalten sie  aber vor allem dadurch, dass Leonie Weber sie isoliert und in den Kunstbetrieb einbringt. „Strange echo“ ist draußen im Flur zu lesen, und genau das erzeugt der Transfer banaler Alltagsbotschaften in eine Galerie: ein fremdes, befremdliches Echo. Wobei Weber noch eins obendrauf setzt: Auf der Rückseite des Schildes steht „stranger echo“, so, als ob es noch fremder ginge oder wie wenn hier der Widerhall eines Fremden zu hören wäre. Die kleine Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil dieser Ausstellung, denn semantische Mehrdeutigkeiten gehören gewissermaßen zur Grundausstattung ihres ästhetischen Werkzeugkoffers. In ihrem Film „Hello Goodbye“ liefert Weber dafür einige witzige Beispiele. Einmal plaudern zwei Jungs miteinander, der eine erzählt von seiner Freundin und behauptet, sie sei „funny“, worauf der andere konsterniert entgegnet, warum er denn noch mit ihr geht, wenn sie doch „phoney“ ist. Ein Missverständnis: Der eine meinte „funny“ wie „lustig“, der andere verstand „phoney“ wie „verlogen“. 
In einem akademischen Rahmen wäre an dieser Stelle ein Exkurs über Jacques Derrida und seine Überlegungen zur „Diffarence“ fällig, die darauf basieren, dass rein akustisch nicht zu unterscheiden ist, ob man „Diffarence“ mit a oder „Difference“ mit  e hinter dem Doppel-F schreibt. Ich begnüge mich darauf aufmerksam zu machen, dass es bei den Arbeiten von Leonie Weber unbedingt lohnt, auf Zwischentöne zu achten. Sonst ergeht es einem wie dem jungen Mann in ihrem Film „Hellogoodbye“, der nach dem Namen der Straße fragt, durch die er geht, „Noyes Street“ zur Antwort bekommt und „Noise Street“ versteht, was in diesem ruhigen Wohngebiet, in dem er sich bewegt, seltsam klingt, weshalb er nachhakt: Wirklich „noise“ wie Lärm? Und er wird aufgeklärt, dass der Straßenname aus den beiden Silben „no“ und „yes“ besteht. „Noyes Street“: Nein und Ja in einem Wort – das fügt sich gut in die Kunst von Leonie Weber. Denn: Sie operiert mit dem scheinbar Unauffälligen, um wie nebenbei klar zu machen, dass zu einem Ja auch ein Nein gehören könnte. Oder genauer: Dass sich hinter dem Unauffälligen mehr verbirgt, als der erste Anschein verrät. „Memories“ hat die Künstlerin mit acht roten Rauten an eine Wand geschrieben. Entfernt man – nur in der Vorstellung – die beiden ersten und die beiden letzten Buchstaben, so steht da „mori“, das lateinische Verb für „sterben“, durch das Genre des ‚Memento mori‘ aus der Kunstgeschichte hinlänglich bekannt. Und gehört nicht auch die Tauben fütternde alte Dame auf einer der beiden Malereien zu dieser Kategorie von Bildern, die an die Vergänglichkeit irdischen Lebens gemahnen wollen? Und der Teenager auf der Arbeit schräg gegenüber sieht auch nicht aus, als wollte er vor lauter Daseinsfreude Bäume ausreißen. Man muss nicht wissen, dass er von ferne dem 17-jährigen Trayvon Martin ähnelt, der am 26. Februar diesen Jahres erschossen wurde und an diesem Tag einen Kapuzenpullover trug, wie ihn Weber gemalt hat. Diese Hoodies sind inzwischen zum Modeartikel avanciert, mancherorts aber gelten sie als Kampftracht jugendlicher Gewalttäter. Ein Stigma. Da erhält denn Gottfried Kellers Novellentitel eine bittere aktuelle Note: Kleider machen Leute. Bleibt festzuhalten: Manchmal muss sich die Kunst harmlos geben, um hässlichen Wahrheiten den Weg ins Bewusstsein zu bahnen.


Michael Hübl, 13. September 2012