Kristin Schulz
VOR DEM VERSCHWINDEN. STANDBILDER UND SZENEN
Rede zur Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung im Gellert-Museum Hainichen

Ein junger Mann kommt an den Tresen einer amerikanischen Bar, bestellt ein Becks, bekommt es, bezahlt es und fängt an, es zu trinken – ein Vorgang weniger Sekunden und eine scheinbar alltägliche Situation – wäre da nicht ein Wortwechsel, der es in sich hat: In dem Moment, da der Barkeeper das Bier auf den Tresen stellt, äußert er: „Dont’t be bitter/Sei nicht bitter“ – der Gast fragt nach – „Wie bitte?“ – und bekommt zur Antwort – „Ach, ich meinte nur das Bier.“ Der Barkeeper wendet sich ab, der Gast trinkt einen ersten Schluck, stellt die Flasche vor sich hin, sitzt da und trinkt wieder einen Schluck – und zwei-drei Gedankenlängen später wird abgeblendet und die nächste Szene beginnt. Die Zeit aber reicht aus, dass der Schatten einer Irritation auf der Netzhaut zurückbleibt und seine Spuren im Hinterland der Gedanken hinterlässt.

Die geschilderte Szene stammt aus dem Film „Are you lonesome tonight“ – und jede andere Szene hätte uns den Einstieg in die Blickwelten von Leonie Weber ebenso ermöglicht. Die Künstlerin hat den geschilderten Augenblick, ohne Kommentar, in seiner zufälligen Flüchtigkeit festgehalten – gegen die gängigen Muster von Larmoyanz und Pathos, die sich der Vergänglichkeit üblicherweise zugesellen. Und so ist der Augenblick bei Leonie Weber, was er ist: ein von den Lidrändern begrenzter Moment und dessen Spur in den Schatten der Erinnerung. Von dort kommt das Echo. Und von dort nähern wir uns jeder Gegenwart. Wenn man diesen Augenblick nicht verpasst und seine Sinnesorgane vor ihm verschließt, wird er zum Stolperstein gegen die Abstumpfung, gegen den Fall in Routine und vorgefertigte Interaktionen, bei denen jeder Dialog vorgestanzt ist und das Bier bereits so bitter schmeckt, dass man dafür einen Abwehrspruch benötigt.

Das ganze Leben besteht aus diesen Augenblicken, aber nicht immer haben Künstler ein Sensorium dafür und nicht immer gelingt es ihnen, diese Augenblicke für die Betrachter in den Horizont von deren Erfahrung zu übersetzen. Leonie Weber nimmt uns mit in die Welt der Augenblicke – und sie verlässt sich dabei ganz auf die Poesie des Alltäglichen. Ihre Kamera dient ihr als Erkundungsinstrument in der Welt der Bilder und Szenen. Aber auch ihren Modellen und Zeichnungen wohnt inne, was Roland Barthes bestimmten Fotografien zuschrieb: ein gewisses Detail, das „punctum“, „das, was mich mich besticht“ (Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt/Main 1989, S. 52). Dieses Detail, diese Irritation oder gar Störung, hebt die Bilder, so Barthes weiter, aus der bloßen Masse der einförmigen Fotografie heraus, deren Bilder komponiert und analysiert werden können, die auch schockieren, aber keine Betroffenheit hervorrufen können, die schreiend sein können, doch nicht verletzend. An uns ist es, sich anstecken zu lassen von Leonie Webers Blickweisen und den Fährten, die sie vor uns auslegt, zu folgen. Vor dem Verschwinden – dem nächsten Rasen, der sie zudeckt, dem nächsten Ereignis, das sie überlagert, dem nächsten Abrissauftrag, der die Gegenwart auslöscht – sind sie gerade noch sichtbar – in ihrem „punctum“, und unsere eigenen Erinnerungen und Erfahrungen beleuchten es so, dass wir es wahrnehmen. [Manchmal bleibt dabei genau das „punctum“ übrig – wie beispielsweise in der Isolation der Aquarellzeichnungen von ihrem Hintergrund und Kontext. Ein Pferd auf dem Rücken, das seine Beine in den fehlenden Himmel streckt, ein Zweikampf, der Tanzfigur und Ringergriff vereint, eine nach oben gerissene Hand eines am Boden Kauernden, daneben ein Umriss, der kein Blut zu zeigen braucht, um die Verletzung anzuzeigen, eine Menschenkette halb erhobenen Hauptes – schwarze Schlagschatten von Szenen und ihre Verdichtung zu Ausschnitten, deren Schnittkanten ins Bewusstsein, in die Aufmerksamkeit vordringen, ohne die Stellvertreterfunktion eindeutiger Statements zu behaupten: Auch hier sind wir uns selbst in der Irritation überlassen, das Weiß zu ergänzen und aufzufüllen.]

Inhaltlich geht es dabei – in der Regel – um nicht weniger als alles: um Würde, Arbeit, Beziehungen, Leben und Tod, um Herkunft und Zukunft, und mindestens auch um den Zustand der Welt und das Aussterben der Dinosaurier. Jedoch werden die großen philosophischen Fragen (in den Videoarbeiten) wie nebenbei bei einer Tasse Café, einem Bier oder einem Eis verhandelt – dabei immer jenseits von jener Fahrlässigkeit, die zu große Nähe, Naivität oder Ignoranz ausstrahlen können – die Fragen haben Schwerkraft und damit Gewicht, und so stellt sich heraus, auch wer an Gott glaubt, kann Adam und Eva anzweifeln, denn woher sonst stammen all unsere verschiedenen Hautfarben? Und so sind es oftmals nicht die Gedanken, die verwundern, sondern die Signale, die sie aussenden, den einfachen Antworten nicht weiter über den Weg zu trauen als bis zur nächsten Umleitung und Ausschweifung, denn womöglich sind wir ja alle nur Ergebnisse von Inzest und ja, vielleicht läuft deswegen alles so verquer… Solange man Fragen stellt, solange man miteinander spricht und diesen Kontakt (im Sinne von Berührung, von Ansteckung) nicht aufgibt (mag er auch manchmal übergriffig wirken in seiner Sorge und Bestimmtheit, doch stellen wir uns im Gegenüber erst scharf), so liegt doch darin die Andeutung einer Ahnung, dass es keinen anderen Weg gibt, als den Fragen und Sorgen auf der Spur zu bleiben, ihre Muster zu lesen, und sei es auch jedes Mal neu. Wenn ein Mann einem Freund erzählt, seine Frau behalte alles, was emotionalen Wert für sie habe, selbst Zeitungen, denn so könne sie zu den vergangenen Tagen zurückgehen und sie noch einmal erleben, so scheint das Paradox greifbar: Die Erinnerungen können ebenso wenig wie Objekte und Bilder ausgesperrt werden in einen nicht ständig verfügbaren Lagerraum, so gut gemeint dieser praktische Vorschlag des Freundes auch ist, aber: es betrifft jene Frau zu sehr, und was uns betrifft, werden wir nicht los, nicht im Umarmen und nicht im Verleugnen. In dieser Szene, Sie werden es sehen, ist eine dritte Person im Raum, die das Gespräch – stumm vor sich hinarbeitend – dennoch verfolgt, ab und an einen Blick zu den beiden Männern wirft und sich schließlich sogar in das Gespräch einmischt: Sie erinnert an das Feuer, das neulich in einem Lagerraum ausgebrochen ist, und lenkt damit die Gedanken der beiden unbewusst in eine andere Richtung. Auch uns betreffen diese Standbilder und Szenen, auch wir sind die stummen Zuhörer und Zuschauer, bis auch wir uns einmischen. „I had the time of my life und I never felt this way before“, verkündet das Schild über dem Nachbarladen – selbst wenn der diesjährige Mai in Utica der kälteste seit 1966 ist. „That’s something“, meint der Eisenwarenhändler. Something, etwas. Behutsam lässt Leonie Weber uns diese Leerstellen vor der Erklärung, und so füllen wir sie in unserer Vorstellung auf, ohne sie zu enträtseln. Manche Dinge können nicht anders gezeigt werden. Und jeder Versuch der Umschreibung, der Übersetzung ist ein hilfloses Unterfangen, eine Art Umzingelung, die doch am Kern vorbeigeht und diesen verschwinden lässt. So verhält es sich mit dem Poetischen: Das was nicht aufgeht – der Rest ist Lyrik. Der Rest, der zurückbleibt. Etwas. Ein Schatten auf der Netzhaut, im Sinn, in Gedanken – jenes „punctum“: jene winzige Lücke der Irritation zwischen Wiedererkennen und Abweichung.

Chris Marker, der gerade verstorbene französische Filmemacher, Schöpfer des Essayfilms und einer der wenigen, bei denen Bilder, Texte und Ton – alle aus seiner Hand – zu einem poetischen Gesamtkunstwerk zusammenfinden, erzählt in seinem Film „Sans Soleil“ u. a. von der japanischen Hofdame Sei Shonagun und ihren Listen, die sie mit Vorliebe anfertigte. Darunter taucht bspw. die „Liste der eleganten Dinge“ auf, die „Liste der Dinge, die es nicht wert sind, getan zu werden“ oder die „Liste der Dinge, die das Herz schneller schlagen lassen“. Chris Marker erklärt diese letzte für sich als ein gutes Kriterium, Filme zu machen. Auch Leonie Webers Arbeiten sind Listen der „Dinge, die das Herz schneller schlagen lassen“ – und nicht nur Freude oder Jubel bringen das Herz auf Trab. „See you“, grüßt eine junge Frau eine andere, die auf der Treppe sitzt. „Thanks for the warning“, erwidert diese und blickt der ersten hinterher. Sprache und Sprüche sind dabei die Spiegel von Brachen und Brüchen – und es ist nicht sicher, ob jede Begegnung auch schon Kontakt oder Austausch bedeutet. Denn auch die Kommunikationsmittel sind mitunter nur schwer bedienbare Hilfswerkzeuge im Labyrinth von Konvention und Floskelei. Die Arbeiten sind somit immer Sonden in den Tiefenraum von Kommunikation im Vexierspiel von Selbst- und Missverständnis – und selbst der misslungenen Interaktion ist noch das Bemühen um ihr Gelingen abzulesen, auch wenn sie die Erfahrung des Scheiterns schon in sich birgt. Um es mit einem Titel von Leonie Weber zu sagen: „Erst Bringen Sie Euch Die Kultur, Dann Nehmen Sie Eure Wohnungen“ – oder mit Hölderlin übersetzt: „Und vieles / wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / zu behalten“. Wir tragen es mit uns und bewahren es – als Erfahrung, die zumindest den unermüdlichen Siegern der Geschichte noch bevorsteht.

In einer Inszenierung von Christoph Marthaler verkündet eine Wandschrift agitpropverdächtig zukunftsweisend „Damit die Zeit nicht stehenbleibt“, doch schon die Bahnhofsuhr darunter zeigt eine fiktive Zeit an: der große Zeiger steht auf kurz vor, der kleine Zeiger auf kurz nach 3. Nach und nach fallen Buchstaben aus der Schrift und nur noch Silben oder einzelne Lettern bleiben übrig: bei Marthaler ein Bild für den deutschen bzw. postsozialistischen Geschichtsraum zeitloser Gegenwart, der von einer Schar seltsam konditionierter Männer und Frauen bevölkert wird, während die Vergangenheit nicht zuletzt aus dem Rohrleitungs- und Heizungssystem – mit Liedern wie „Brüder zur Sonne zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor“ – als Echo lautstark und hörbar in die Gegenwart vor- und eindringt.

Auch in einem Modell von Leonie Weber haben sich manche Buchstaben verloren und nur noch Fragmente stehen da, und selbst wenn die Phantasie mitspielt und sie zu vollständigen Wörtern ergänzt – so bleiben diese doch offen wie ein rückläufiges Wörterbuch: Sie reimen sich, doch die Bedeutung (und der Wortstamm) wechseln erheblich. Und so kann ein Laden impressive, aggressive oder progressive sein – und je nach Auswahl seine Geschichte anders erzählen. Auch hier zeugen der abblätternde Putz, die durchmischten Farben, die offenen Wände von einer Geschichte der Schichten und der Tiefe, die vom Verborgenen kündet. Es sind Räume in einem Übergangsstadium, sie leben in ihrer Benutzung und lassen den drohenden Verfall erahnen, doch einen Augenblick lang sind sie besucht oder bewohnt: wenn wir unsere Blicke in ihnen aufhalten und sie damit ebenfalls vor dem Verschwinden retten. „Last One Out Please Turn Out The Lights“ – doch liegt in dieser Aufforderung kein Versprechen mit Hoffnungspotential, wie noch in dem ihm verwandten Graffiti auf der Berliner Mauer vor ihrem Fall. Und ebenso wenig eröffnet die strenge Nüchternheit institutioneller Korridore einen Ausweg: Die immergleichen Türen sind verschlossen und – dreidimensional betrachtet – führen sie ins Nichts. Und ohne dass Kafkas Türhüter seine Autorität auszuüben braucht wird jeder Aufenthalt hier zur Gefangenschaft fremdbestimmter Wartezeit, deren Ausgang in jeder Hinsicht ungewiss ist: „Struggle and Strive“, der Titel. „Go ahead“. Ins Ungewisse. Deutlicher wird auch das Dunkel selbst offener Türen – im nächsten Modell – nicht.

Und so kreuzt ein Jugendlicher im roten T-Shirt die Straße – Sie kennen ihn von der Einladungskarte –, um wenige Schritte später die Straßenseite wieder zu wechseln und beinahe da abzubiegen, von wo er gekommen ist. Das „Beinahe“ macht die Verschiebung aus, lässt uns weiterfragen nach dem Woher und Wohin. Die Ampeln schalten um, ein Zug kreischt, Signalmasten und Rücklichter, Fahrzeuge und Vögel bleiben gelassen und bilden weiter ihr Netz von Bezügen, das die Kamera einfängt. „Wer das lesen könnt…“ fragt sich Büchners Woyzeck und meint die Schwämme und wie sie auf dem Boden wachsen. – In Leonie Webers Arbeiten stellt sich diese Frage so nicht, denn hier treiben die Räume ihre Antworten aus, hier sind sie zu sehen, zu begreifen; und was sie hinter sich haben, ihre Geschichte, haben wir vor uns – im doppelten Sinne des Wortes. Keinen „Lärm“/„Noise“, sondern ganz einfach: „No/Yes“: also „Yes/No“ umgekehrt, so zumindest will es der Straßenname der „Noyes Street“. Die Umkehr der Sinne als Richtungsweiser im Liniennetz benötigter Orientierung. Dann blühen selbst Wände, öffnen sich die Jalousien unseren Blicken und die Menschen geben preis, was wir hinter Gesichtern, Mienen und Ausdrücken nicht vermuten würden. „Weißt du schon, was du werden willst?“ fragt der Besitzer von „Hero’s Submarine Sandwiches“ seine junge Bedienung, die gerade den Tresen putzt. „A photographer“ antwortet sie geradlinig kompromisslos, und sie sprengt damit den Erwartungshorizont ihres Chefs, so dass er nach einer Weile nur zustimmen kann: „Ja, du kannst das schaffen, wenn du dich anstrengst.“ Die Antwort „I will“ kennt keine Zweifel. Das ist nicht der amerikanische Traum des Tellerwäschers, sondern das Gegenteil: die Verteidigung der Träume und Vorstellungen über den überschaubaren Tellerrand hinaus. Und die Frau in der „Polish community home“-Bar ergänzt: „I want a simple life.“ Das einfache Leben, und mindestens einen Song aus der Jukebox dazu. Wenn Elvis nicht persönlich aufersteht.

Und so wird sogar die Sekretärin handzahm, wenn Leonie Weber mit ihrer Sprayflasche das Sagen übernimmt und aus ihrer Ausstellung hinter dem Bildschirm verschwindet. Auf eben diesem Bildschirm macht eben diese Sekretärin einer Mitarbeiterin das Leben schwer, bis die Künstlerin vor der Szene selbst auf dem Bildschirm auftaucht und die Gegenwehr gegen Bürokratie und Ordnung, Regeln und Vorschriften in Gang setzt, indem sie den Bildschirm von innen erobert – mit Graffiti und Hilfsverben, wobei sich am Ende Wollen und Müssen die Leinwand teilen und die Sekretärin kleinlaut verstummt. Die Künstlerin verlässt damit das Reservat der Träume, indem sie konkret wird, um es doch gerade als Zuflucht (der Bilder und Inhalte) zu behaupten. Und so wie Tom Baxter in Woody Allens „The Purple Rose of Cairo“ aus der Leinwand steigt, weil er sich in Cecilia verliebt hat, die Vorstellung für Vorstellung vor ihm im Kinosaal sitzt, so steigt hier die Künstlerin umgekehrt in den Szene ein, um diese zu richten. Kein Happy end, das fehlt auch bei Woody Allen, aber ein „Verbesserungsvorschlag“. Mindestens. Und der Wunsch, ihr folgen zu können – auf die Innenseite der Bilder und die Rückseite der Szenen, in den Augenblick, und sich darin aufzuhalten, eine Weile lang – zumindest für die Dauer der Ausstellung.

Kristin Schulz, 30.09.2012